Vorbild Tante Emma
CYbiz, Ausgabe November 2002
E-Commerce wird heute fast nirgendwo mehr als Wundermittel gehandelt, sondern als logische Ergänzung bestehender Vertriebswege. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis gilt es, sich auch bei der Kundenansprache im Internet am stationären Handel zu orientieren. Und das bedeutet: Eine persönliche Atmosphäre wie bei Tante Emma hilft verkaufen, Aufdringlichkeit und Impertinenz schrecken ab.
Wer zu sehr von seiner eigenen Idee überzeugt ist, der übertreibt es mit der Umsetzung oft ein wenig. Das galt besonders für die Boomphase des Internets, in den Jahren 1999 und 2000. Persönliche Ansprache des Surfers hielten schon damals einige Macher für unabdingbar, nur die Umsetzung dieser Pläne geriet oft ziemlich daneben: Fast jede Website, die etwas auf sich hielt, beschäftigte damals einen Bot, einen virtuellen Verkäufer, der der Kundschaft seine Hilfe aufdrängte. Die Deutsche Bank schmückte sich mit Cora, das ZDF mit der kurvenreichen Cornelia ("sprich mit mir"). Sie versprachen, jede Frage zu beantworten, verloren aber auch bei einfachen Dialogen oft den Faden und wurden deshalb zum beliebten Objekt öffentlicher Häme. Vor allem aber: Sie sorgten nicht dafür, dass der Surfer auf der Site so schnell wie möglich das fand, was er suchte. Das haben wohl auch der Fernsehsender und die Bank erkannt, Cora und Cornelia wurden längst gefeuert.
Kundendaten intelligent verknüpfen
"Zu uns ist auch noch keiner mit leuchtenden Augen gekommen und hat gesagt, ich will unbedingt einen Shopbot", sagt Roland Brückner, Geschäftsführer der Firma Iconparc aus München. Deshalb beschäftige sich der Anbieter von E-Business-Lösungen auch nicht mit diesem Thema. "Im Netz soll es in erster
Linie schnell gehen, wer Erlebniseinkauf will, geht in ein richtiges Geschäft." Und wer im Internet persönlich werden, d.h. auf jeden Kunden individuell zugehen will, der muss vor allem die Inhalte seiner Website intelligent mit den Kundendaten verknüpfen. Grundsätzlich kann man das auf zwei Arten tun: Bei der sogenannten "konfigurierten Personalisierung" werden in der Konfiguration des Systems für jeden Kunden bestimmte Inhalte und Daten vorab eingestellt.
Die "erlernte Personalisierung" dagegen individualisiert das Angebot, indem das Surfverhalten jedes Kunden kontinuierlich analysiert wird. Nach Ansicht von Roland Brückner ist die zweite Methode wesentlich effizienter und eleganter, auch weil der Kunde nichts davon bemerke, und "ihn es auch nicht interessiert."
Abgesehen vom Ergebnis dieser Analysen, denn die erleichtern die Nutzung von Websites und das Management des E-Commerce oft erheblich. Iconparc realisierte zum Beispiel den OnlineShop des Verpackungsmittelhändlers Ratioform. Bestellungen über das Internet müssen hier vor allem schnell und unkompliziert ablaufen, das eigentliche Produkt interessiert die Käufer weniger. Spätestens beim dritten Klick sollte jeder Kunde am Ziel sein. "Wer am Telefon bestellt, sagt auf die Frage, was er gerne hätte, häufig: Dasselbe wie beim letzten Mal" erzählt Rolf Schmidt, Marketingleiter bei Ratioform. "Und genau so muss auch der OnlineShop funktionieren."
Folglich kann der Kunde bei jeder Bestellung seine alten Aufträge einsehen, weil sich das System diese "gemerkt" hat. Eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Methode des individuellen Service im Web.
Erleichtert wird das Verfahren durch die Verwaltung von Kundeninformationen und Katalogdaten in einer gemeinsamen Datenbank.
Das gilt erst recht, wenn an die Personalisierung komplexere Anforderungen gestellt werden. Beim Online Buchhändler Amazon etwa bekommt jeder Kunde individuell auf ihn zugeschnittene Empfehlungen, Werbung und Treuerabatte.
Wer was bekommt, lernt das System durch verschiedene Filterverfahren: Beim inhaltsbasierten Filtern empfiehlt die Software zum Beispiel eine CD, weil sie dieselben Schlüsselwörter aufweist wie eine bereits vom Kunden bestellte. Kollaboratives Filtern dagegen vergleicht nicht objektiv vergebene Attribute mit einander, sondern Meinungen von Anwendern über die Produkte. Dadurch werden Nutzergruppen ermittelt, die gemeinsame Vorlieben oder Einstellungen haben. Empfehlungen, die sich daraus ergeben, können durchaus von denen Abweichen, die sich durch das inhaltsbasierte Filtern ergeben hatten: Einem Musikfan, der bereits fünf Rolling Stones CDs bestellt hat, würde bei der ersten Methode auch das neueste Werk der legendären Band empfohlen. Ein kollaborativer Filter könnte dem System dagegen mitgeteilt haben, dass sämtliche anderen StonesFans die letzte CD unerträglich fanden. In diesem Fall würde keine Empfehlung ausgesprochen. Nach Ansicht von Wolfgang Martin, Analyst und Group Research Fellow bei der Meta Group, darf aber die Personalisierung nicht auf das Internet beschränkt bleiben, sondern muss auf alle Vertriebskanäle übertragen werden. In diesem Zusammenhang nennt er das Beispiel Lufthansa: Wer als "Senator" eingestuft sei, werde auch im Flugzeug zumindest gelegentlich mit seinem Namen angesprochen.
Etablierung verschiedener Servicelevels
An diesem Fall wird allerdings auch deutlich, dass die Klassifizierung der Kundschaft nicht nur dazu dienen sollte, jeden nach seiner Facon gleichermaßen glücklich zu machen: "Bisher hat man meistens allen Kunden denselben Service geboten; das kann aber auf Dauer niemand bezahlen. Es geht um die Etablierung von verschiedenen ServiceLevels. Das Motto muss lauten: Den besten Kunden die besten Services, lausigen Kunden lausige Services." Unendlich viele Details über den Kunden wissen muss man zu diesem Zweck nicht, wer sich mit seiner Adresse identifiziert, liefert im Grunde zusammen mit dem eigenen Surfverhalten schon selber die wichtigsten Daten. Am besten sei es natürlich, so MetagroupAnalyst Martin, den Kunden zu fragen, wie viele Informationen er preisgeben möchte: "Bei der Gestaltung dieser Prozesse kann der Datenschutz sogar eine konstruktive Rolle spielen, er kommt dann ein wenig aus der Polizeiecke raus."
Die Verwaltung und Pflege der Daten, auf denen eine funktionierende Personalisierung beruht, ist allerdings aufwendig und arbeitsintensiv. Nach Ansicht von Wolfgang Martin müssen kleinere Unternehmen das teure Spezialwissen nicht unbedingt selber vorhalten. Er rät dazu, diese Daten und ihre Pflege an einen Serviceprovider zu übertragen. Outsourcing sei bei solchen Aufgaben Trumpf.
Individualisierung von Webseiten ist sogar ganz ohne softwaregestützte Filterverfahren möglich: Indem man den Surfer selbst alle von ihm regelmäßig abgerufenen Informationen und Inhalte auswählen lässt. Zwar warnen Experten davor, den Durchschnittsuser mit einer verwirrenden Menge von Optionen, Eingabefeldern und Auswahlboxen in die Flucht zu schlagen. Für manche Anwendungen scheint es aber die richtige Methode zu sein:
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